Dr. Varsha Ramachandran vom Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg und ihre Kollegen entdeckten den ersten "entkleideten" Stern mittlerer Masse, der sich als fehlendes Bindeglied in der Entwicklung hin zu Systemen mit verschmelzenden Neutronensternen entpuppte. Für das Verständnis des Ursprungs schwerer Elemente wie Silber und Gold ist dies von entscheidender Bedeutung. Dr. Ramachandran ist Postdoktorandin in der Arbeitsgruppe von Dr. Andreas Sander am Astronomischen Rechen-Institut (ARI) des ZAH. Die Ergebnisse wurden nun in der Zeitschrift Astronomy & Astrophysics Letters veröffentlicht.
Das Forscherteam entdeckte den ersten Vertreter der lange vorhergesagten, aber bisher noch nicht bestätigten Population sogenannter "entkleideter Sterne" (engl. stripped stars) mittlerer Masse. "Stripped stars" sind Sterne, die den größten Teil ihrer äußeren Schichten verloren haben, wodurch ihr heißer und dichter heliumreicher Kern zum Vorschein kommt und aus der Kernfusion von Wasserstoff zu Helium hervorgegangen ist. Die meisten solcher Sterne entstehen in Doppelsternsystemen, in denen die starke Anziehungskraft eines Sterns Materie von seinem Begleiter absaugt.
Astrophysiker kennen seit langem entweder sehr massearme oder sehr massereiche "stripped stars", die als Unterzwerge bzw. als Wolf-Rayet-Sterne bezeichnet werden. Bisher konnten sie jedoch noch keinen der vorhergesagte sogenannten "intermediate-masse stripped stars" finden. Deshalb was unser theoretisches Verständnis der Sternentwicklung an dieser Stelle bislang in Frage gestellt.
Bei der Untersuchung heißer und leuchtender Sterne mit hochauflösender Spektroskopie am Very Large Teleskope der Europäischen Südsternwarte (ESO) entdeckten Dr. Ramachandran und ihre Kollegen jedoch verdächtige Signaturen im Spektrum eines heißen, massereichen Sterns, der zuvor als einzelnes Objekt klassifiziert worden war. Eine detaillierte Untersuchung seines Spektrums ergab, dass es sich bei dem Objekt tatsächlich um ein Doppelsternsystem handelt, das aus dem entblößten Stern mittlerer Masse und einem schnell rotierenden Begleiter, einem sogenannten Be-Stern, besteht, dessen Rotation durch die Akkretion der Materie seines Begleiters beschleunigt wurde. Das System befindet sich in einer benachbarten Zwerggalaxie, der Kleinen Magellanschen Wolke (SMC). Sterne in dieser Galaxie haben eine geringere Häufigkeit an schwereren Elementen, die von Astrophysikern einfach als "Metalle" bezeichnet werden, als die massereichen Sterne in unserer Milchstraße. Die Sterne dieser kleinen Galaxie sind daher quasi ein Fenster in die Vergangenheit unserer eigenen Galaxie und die chemische Entwicklung des Universums.
Dr. Ramachandran absolvierte ihr Studium in Indien, bevor es sie für ihre Promotion nach Potsdam, Deutschland, zog. Seit September 2021 ist sie am ZAH/ARI tätig. "Mit unserer Entdeckung zeigen wir, dass die lange vermisste Population solcher Sterne tatsächlich vorhanden ist! Unsere Ergebnisse deuten aber auch darauf hin, dass sie ganz anders aussehen könnten, als wir erwartet hatten", erklärt Dr. Ramachandran und fügt hinzu, dass solche Sterne ihre äußeren Schichten nicht vollständig verloren haben, sondern eine kleine, aber ausreichende Menge Wasserstoff auf ihrem Heliumkern behalten könnten, so dass sie viel größer und kühler erscheinen als bisher vorhergesagt. "Wir nennen sie daher 'teilweise entblößte Sterne' (engl. partially stripped stars)", fügt sie hinzu. Dr. Andreas Sander weist darauf hin, dass ihr Mantel aus verbliebenem Wasserstoff eine Art Tarnung ist. "Teilweise entblößte Sterne sehen normalen Sternen sehr ähnlich und verstecken sich dadurch im Wesentlichen vor aller Augen. Nur hochauflösende Daten in Kombination mit sorgfältiger Spektralanalyse und detaillierten Computermodellen können ihre wahre Natur enthüllen. Kein Wunder, dass sie sich so lange der Entdeckung entzogen haben! Das Besondere an diesem Stern war seine Masse: Ein paar Mal massereicher als unsere Sonne mögen viel erscheinen, aber das ist für sein Aussehen eine sogenannten blauen Überriesen außerordentlich leicht", erklärt der Forschungsgruppenleiter.
Dr. Jakub Klencki, unabhängiger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europäischen Südsternwarte (ESO) und Mitautor, erklärt, dass das neu entdeckte System das entscheidende Glied in der evolutionären Kette ist, die mehrere verschiedene Arten exotischer Objekte verbindet. "Unsere Sternentwicklungsmodelle sagen voraus, dass der von seiner äußeren Hülle befreite Stern in etwa einer Million Jahren als Supernova explodieren und einen Neutronenstern hinterlassen wird", betont Dr. Klencki die neue Entdeckung.
Der von Dr. Ramachandran und ihren Kollegen entdeckte Stern ist der erste seiner Art, der bisher in einer an schweren Elementen armen Galaxie gefunden wurde. Wenn der Doppelstern die in ferner Zukunft stattfindende Supernova-Explosion überlebt, werden sich die Rollen der beiden Sterne vertauschen: Dann wird der neu entstandene Neutronenstern die Materie vom übrig gebliebenen Begleiter abziehen und sich das System zu einem sogenannten Be-Röntgendoppelstern entwickeln. Dies wäre dann der Vorläufer einer zukünftigen Verschmelzung von Doppelneutronensternen, einem Vorgang, der zu größten kosmischen Spektakel gehört und der Ursprung chemischer Elemente wie Silber oder Gold ist. "Unsere Entdeckung fügt dem Puzzle ein wichtiges Teil hinzu und liefert die ersten direkten Einschränkungen dafür, wie der Massentransfers in solchen Sternsystemen abläuft", schließt Dr. Ramachandran. Die Ursprünge der Entstehung schwerer Elemente zu verstehen ist eine der größten Herausforderungen der modernen Astrophysik und die Beobachtung von Zwischenstufen auf diesem Weg daher so entscheidend.
ORIGINALPUBLIKATION
A partially stripped massive star in a Be binary at low metallicity. A missing link towards Be X-ray binaries and double neutron star mergers. V. Ramachandran, J. Klencki, A.A.C. Sander, D. Pauli, T. Shenar, L.M. Oskinova, W.-R. Hamann, A&A 674, L12 (2023), DOI : 10.1051/0004-6361/202346818
WISSENSCHAFTLICHER KONTAKT
Dr. Varsha Ramachandran
Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg
Astronomisches Rechen-Institut
E-Mail: vramachandran@uni-heidelberg.de
Persönliche Website: https://varsharamachandran.com/
Website der Forschungsgruppe: https://wwwstaff.ari.uni-heidelberg.de/ansander/
KONTAKT FÜR DIE MEDIEN
Dr. Guido Thimm
Zentrum für Astronomie Heidelberg
thimm@uni-heidelberg.de